Nach etwa 14 Stunden Busreise von Rio de Janeiro aus traf unsere Reisegruppe in São João do Garrafão ein.
Die Gruppe bestand aus sieben Jugendlichen und drei Erwachsenen, die sich fünf Tage zuvor in Aachen auf den Weg gemacht hatten. Es war am Abend des 3. Juli, ein Freitag.
Die Schulleiterin Iolanda, die Lehrerin Leonora und ein Fahrer der Präfektur hatten uns mit einem VW-Bus und einem kleinen Pickup in Vitória abgeholt. Die EFA war zu dieser Zeit unbewohnt, denn die Internatsschüler der Sekundarstufe I (5. bis 8. Klasse) waren schon wieder auf ihren Höfen. Am Wochenende sind normalerweise keine Schüler oder Lehrer in der Schule. Deshalb wurde die Sicherung von Grundstück und Gebäuden gegen Einbruch immer mehr zum Problem, das nur durch eine Videoüberwachung in den Griff zu bekommen war.
Wir wurden sehr herzlich mit einem Abendbrot und einer Suppe empfangen. Nach dem recht engen Quartier in Rio de Janeiro und der langen Fahrt freuten wir uns über die beiden großzügigen und – bei aller Einfachheit – freundlichen Zimmer. Sie lagen in der ersten Etage, dem Schlafbereich der Mädchen. Es war genug Platz, weil in der folgenden Woche die Sekundarstufe II in die Schule kommen sollte, also die Oberstufe in der EFA. In diesen Stufen ist der Anteil Internatsschüler kleiner als bei den Jüngeren. In jedem Zimmer standen fünf Doppelstockbetten, eigentlich für zehn Schülerinnen. So hatten wir reichlich Platz für unsere persönlichen Sachen, denn Schränke gibt in diesen Zimmern es keine.
Während in Vitória am Meer die Temperatur sehr angenehm war – so wie zuvor in Rio – merkte man hier im Hochland auf einer Höhe von etwa 800 bis 1000 Metern den Winter deutlich. Das Schulgebäude, ohne jede Heizung oder Wärmedämmung, war ausgekühlt. Die Außentemperatur sank in der Nacht unter fünf Grad. Die Nachrichten über die Hitzewelle in Deutschland zur selben Zeit wirkten für uns grotesk.
Da die Schüler erst am Montag eintreffen würden, nutzten wir das Wochenende, um etwas vom Leben in dieser Region und der Landwirtschaft zu erfahren. Zwei ökologisch wirtschaftende Höfe lernten wir am ersten Tag kennen. Der eine gehörte dem Kleinbauern Dalvino Braun. Er bewirtschaftet ihn gemeinsam mit seinem erwachsenen Sohn, einem ehemaligen Schüler der EFA. Drei Grundsätze verhelfen Dalvino Braun, der nach der Grundschule keine weitere Ausbildung erhielt, zum Erfolg: Vielfalt, Innovation und biologische Landwirtschaft.
Auf dem Land, das er selbst von seinen Eltern übernommen hat, und einigen Hektar, die er dem Nachbarn abkaufte, baut er verschiedene Gemüsesorten, Erdbeeren, Obst und Getreide an. Seit einigen Jahren ist er durch die Organisation „Chão Vivo“ („Lebendiger Boden“) mit Sitz in Santa Maria de Jetibá als biologisch wirtschaftender Betrieb zertifiziert – in Brasilien spricht man von „organischer“ Landwirtschaft. Seine Verkaufsschlager sind Erdbeeren und Kekse. In seiner kleinen Manufaktur stellt er knapp zehn Varianten Kekse her, die meisten davon glutenfrei – eine besondere Marktnische in Brasilien. Seit einigen Jahren konnte er sich einen überregionalen Markt erschließen. Das Beispiel zeigt, worauf es ankommt, damit Kleinbauern in dieser Region auch ohne große Eukalyptus-Monokulturen wirtschaftlich erfolgreich sein können. Dies zu vermitteln ist Aufgabe der EFA.
Am Sonntag stand der Besuch bei einem Dorffest im Mittelpunkt. Wir mussten dazu etwa 40 km mit dem Kleinbus der Schule zurücklegen, denn das Dorf liegt noch jenseits der Kreisstadt Santa Maria. Größere Dorffeste mit Publikum aus der ganzen Region – also im Umkreis von 50 bis 100 km – sind eine Attraktion. Um einige hundert oder sogar bis zu 1000 Besucher gleichzeitig aufnehmen zu können, braucht man schon eine passende Infrastruktur: einen größeren Platz und überdachte Bereiche für Essen, Grillen, Getränke, Tanz und Vorführungen. Hier wird uns deutlich, warum der Trägerverein der EFA auf dem Gelände der Schule eine solche Struktur aufbaut. In der Gegend von Garrafão gibt es so etwas bisher nicht. Neben Volksfesten, dem großen jährlichen Erdbeermarkt, Schulfesten und Fortbildungen für Kleinbauern ist so eine Einrichtung auch für private Feiern interessant, insbesondere Hochzeiten. Während der letzten Jahre hat die EFA bzw. der Elternverein für das Gelände einiges erreicht. Aus staatlichen Förderprogrammen haben sie eine große überdachte Sportfläche bauen können, die sie außer für Ballsport und Gymnastik zum Tanzen und für Versammlungen nutzen. Vor der Fußball-WM erhielten sie zusammen mit einigen hundert Schulen in Brasilien einen Kunstrasenplatz mit Beleuchtung. Da es jeden Tag gegen 18 Uhr dunkel wird, ist das für die Freizeitgestaltung der Schüler, deren Unterricht um 17 Uhr endet, von großem Wert. Nach dem legendären „7:1“ war es Ehrensache, dass einige aus unserer Gruppe mit Fußball spielten.
So positiv wie bei den Sportstätten, mit denen Politiker sich prima in Szene setzen können, sieht es mit der übrigen Ausstattung im Schulgebäude nicht aus. Schon vor vier Jahren wurde mit staatlichen Geldern ein Neubau begonnen für dringend benötigte Fachräume der Oberstufe. Der naturwissenschaftliche Unterricht findet in einem Abstellraum statt. Die Schule wurde vor gut 30 Jahren vom Bundesstaat nur für die 5. bis 8. Klasse gebaut. Die Oberstufe kam später dazu und eine Erweiterung des Gebäudes tut Not. Seit drei Jahren steht der Neubau still. Der Regierung des Bundesstaates Espírito Santo mit Sitz in Vitória ist das Geld ausgegangen – oder abhanden gekommen. Die 2015 neu eingesetzte Regierung hat offenbar noch weniger Absichten als die vorige, die EFA zu unterstützen. Immerhin ist die Ausstattung mit Computern so brauchbar, dass die Schüler die Grundkenntnisse im Umgang damit erwerben können.
Mittlerweile unzumutbar ist die Situation der Sanitären Anlagen. Die Rohrleitungen waren – wie bei vielen staatlichen Bauvorhaben – von schlechter Qualität. Inzwischen sind sie an vielen Stellen undicht und durchnässen die Wände, einschließlich der Elektroleitungen. Einige Notreparaturen vor drei Jahren konnten zumindest die Gefahr von Stromausfällen und elektrischen Schlägen abwenden. Die Erwärmung des Wassers durch Solarkollektoren im Winter ist ebenfalls unzureichend – wovon wir uns bei einigen kalten Duschen überzeugen konnten. Die Regierung stellte 2013 die Sanierung des Gebäudes in Aussicht, aber außer ein paar Plänen kam noch nichts heraus. Mit dem Regierungswechsel ist die Hoffnung ganz geschwunden. Der Trägerverein hat daher beschlossen, einen großen Teil seiner Einnahmen aus dem letzten Erdbeerfest für die nötigsten Sanierungen einzusetzen. Globale Nachbarschaft gibt seinen Teil dazu, damit wenigstens die sanitären Einrichtungen bald wieder gut nutzbar sind.
Angesichts der äußeren Umstände hat uns sehr beeindruckt, wie kreativ Lehrer und Schüler ihre Möglichkeiten für einen engagierten Unterricht nutzen und die Ausstattung der Schule pflegen. In diesen Tagen brachten die Oberstufenschüler ein fachübergreifendes Unterrichtsprojekt zum Abschluss. In entsprechenden Gruppen stellten die Schüler die fünf Kommunen vor, aus denen sie kommen. Sie recherchierten die Geschichte der Einwanderer, deren Herkunft in Europa – Pommern, Zeeland und Italien – sich sehr unterschiedlich in den Orten widerspiegelt. Sie präsentierten die wichtigen landwirtschaftlichen Produkte, Wirtschaftsfaktoren, Politik, Kulturelle Besonderheiten wie Tänze und Musik und die Landschaften. Das alles bekamen wir am letzten Tag unseres Aufenthaltes zu sehen.
Den guten Zusammenhalt der Lehrer untereinander konnten wir deutlich spüren, wie auch ihr vertrauensvolles und freundschaftliches Verhältnis zu den Schülern. Fast alle Lehrer sind selbst ehemalige Schüler der EFA und dem Leben ihrer Schüler sehr verbunden. Als weiteres Glied dieser Verbundenheit lernten wir den Vorsitzenden des Trägervereins der EFA gut kennen: Laudemar Pioto war fast jeden Tag mit uns zusammen. Er ist ein Bauer aus der Region, dessen ältester Sohn Maurício nach dem Abschluss in der EFA und einem Studium nun als Lehrer hier arbeitet. Zwei weitere Söhne sind zur Zeit Schüler der EFA, davon einer in der Oberstufe. Ein besonderer Höhepunkt in Bezug auf freundschaftliche Verbundenheit und die Geschichte der Schule war am letzten Tag der Besuch von Siegmund Berger, der extra wegen uns kam. Er war lange Zeit der evangelische Pfarrer in Garrafão, hat die Schule mit gegründet und viele Jahre geleitet. 1995 lernten wir ihn beim Kirchentag in Hamburg kennen. Seit einigen Jahren leitet er die regionale evangelische Diakonenschule im Nachbarmunizip Afonso Cláudio.
Die fünf Tage in Garrafão hatten uns wegen des Winters, einiger Kranker und der sanitären Anlagen die eine oder andere Entbehrung auferlegt. Für mich überwogen aber bei weitem die Freude an der Herzlichkeit und Einsatzbereitschaft unserer Gastgeber und an der reichen Natur.
Guido Hinz