Am Ende eines recht turbulenten Jahres haben Marta und ich es geschafft, uns für den 23.12. abends zum Gespräch über facebook zu verabreden. Aus dem Abend wurde Nacht, denn erst gegen 00:15 Uhr war Marta online (Ortszeit Sobradinho 20:15 Uhr). Sehr schön war, dass wir diesmal nicht „nur“ Textnachrichten ausgetauscht, sondern uns richtig unterhalten haben. Sie kam gerade von einem kleinen „Betriebsausflug“ mit ihren Mitarbeiterinnen zurück und war ziemlich geschafft. Am vergangenen Wochenende hatten sie in beiden Einrichtung mit den Kindern und Jugendlichen den Jahrsabschluss gefeiert, bevor es nun in die großen „Sommerferien“ geht. Sie nahmen sich nach den Aufräumarbeiten diese Gelegenheit, nochmal als „Team“ zusammen zu sein. Marta hatte dafür das Dorf Traíras ausgewählt, etwa 30 km von Sobradinho aus in die Caatinga.
Sie sagt, dass viele junge Leute aus Sobradinho fast gar nichts vom Leben im „Sertão“ – in der Wildnis – wissen. Obwohl nur eine Kleinstadt mit schätzungsweise 30.000 Einwohnern, ist Sobradinho doch so städtisch strukturiert, dass die meisten, die hier wohnen, keinen Grund haben und auch kaum Möglichkeiten die kleinen Dörfer und Höfe im Umkreis zu besuchen. Wer in Sobradinho Landwirtschaft betreibt, hat sein Feld oder seinen „Arbeitsplatz“ auf einer Plantage eher in der Nähe von Fluss oder Stausee, nicht aber in der abgelegenen Caatinga mit Ziegenherden, Maniok und Kakteen. So haben sie also den Tag genutzt, um die andere Seite Sobradinhos besser kennenzulernen, die Ruhe dort zu genießen, Rückblick zu halten und sich auf das kommende Jahr einzustimmen.
Es war in Sobradinho – wie fast überall in Brasilien und der ganzen Welt – ein verrücktes Jahr. Während die brasilianische Bundesregierung unter Präsident Bolsonaro es eher locker angehen lässt mit Corona, haben andere Ebenen der Verwaltung teils rigorose Maßnahmen ergriffen. Seit dem 18. März sind in Sobradinho alle Schulen und überhaupt alle Einrichtungen für Kinder, die die Präfektur oder der Bundesstaat Bahia betreiben, durchgehend geschlossen, bis jetzt am Ende des Schuljahres. Es sollte einen „virtuellen“ Unterricht geben. In Sobradinho sah der so aus, dass alle Kinder und Jugendlichen, in deren Haushalt es ein geeignetes Smartphone gibt, darüber „beschult“ werden sollten. Über Computer (Laptop) verfügen in dieser Region nur wenige Haushalte. In ganz Brasilien verfügen weniger als die Hälfte aller Haushalte über einen Computer, für die ländliche Region im Nordosten ist die Quote viel geringer. Über die Smartphones findet kaum eine Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern statt. Es läuft meist auf das Angucken von Youtube-Videos hinaus, mit welchem Inhalt auch immer. Die Familien ohne Smartphone und Internet erhalten ein „Kit“ mit Aufgaben und Anleitungen für den „Distanzunterricht“. Wenn sich in der Familie aber keiner findet, der Zeit zur Betreuung der Kinder hat und auch noch einigermaßen lesen kann, ist der Effekt ähnlich überschaubar wie bei den Familien mit Smartphone und Internet. Die Misere und Absurdität der „Bildungssituation“ wirkt noch krasser, wenn man betrachtet, wie bei Veranstaltungen des Kommunalwahlkampfs von August bis Oktober jegliche Vorsicht in Bezug auf Corona über Board geworfen wurde. So ist in einigen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens kaum etwas von Schutzmaßnahmen oder Einschränkungen zu merken.
In den ersten fünf Monaten des brasiliansichen „Lockdown“ hat die Arbeit von Gente Valente sich darauf konzentriert, regelmäßig Lebensmittelpakete an die Familien zu verteilen. Marta berichtet, dass das Förderprogramm Bahias für die Lieferung von Lebensmitteln aus der lokalen und vor allem kleinbäuerlichen Landwirtschaft an soziale Einrichtungen bei ihnen gut funktioniert hat. Sie bekamen mehrmals pro Monat Lieferungen, die sie dann abgepackt und verteilt haben. So konnten sie etwas Kontakt halten und die Situation der Kinder zu Hause beobachten. In Einzelfällen war konkrete Hilfe möglich. Einige Familien waren von Corona betroffen. Die größeren Probleme gab es aber wegen steigender Lebensmittelpreise, fehlender Kinderbetreuung, Schwierigkeiten bei der Erwerbsarbeit und natürlich durch Alkohol, andere Drogen und häusliche Gewalt.
Anfang September entschieden Marta und ihr Team, die Einrichtungen Gente Valente und Casa Antonita schrittweise wieder zu öffnen. Die teils desolaten Lebensumstände der Kinder zu Hause wollten sie nicht länger mit ansehen. Damit setzten sie sich über die Verordnungen der Verwaltung hinweg, was nur mit der ausdrücklichen Zustimmung der Familien möglich war. Sie begannen mit zwei Gruppen der drei- bis vierjährigen Kinder, jeweils aufgeteilt auf Vor- und Nachmittag. Nach einigen Wochen kamen einige Säuglinge und Kleinkinder dazu und schließlich auch die Vor- und Grundschulkinder. Im November und Dezember waren 75 Kinder regelmäßig in der Einrichtung. Die Vorschulkinder konnten das Jahr sogar mit einer Art „ABC-Führerschein“ abschließen, ein großer Erfolg. Kein einziger Fall von Corona trat während dieser Zeit in der Einrichtung auf. Ähnlich ging es in der Casa Antonita, wo Cândida als Mitarbeiterin 14 Mädchen in zwei Gruppen betreute.
In diesem Jahr musste die Stiftung Antonita Bandres erstmalig ganz ohne die Unterstützung der Hilfsorganisation SEIAS vom Orden „Filhas de Jesus“ auskommen. Der Orden der Schwestern, die 1989 den Aufbau von Gente Valente als Kindergarten begonnen hatten, unterstützte die Einrichtung all die Jahre mit einem großen Betrag, insbesondere für die Ernährung der Kinder. Schwester Angélica sorgte durch Mittel, die sie persönlich aufbrachte, für eine bescheidene Aufwandsentschädigung, mit der Marta die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiterinnen zumindest etwas unterstützen konnte. Das alles lief im Jahr 2019 aus und es war nicht klar, wie das Team um Marta dies verkraften und ausgleichen würde. Mit großem persönlichen Einsatz im vorigen Jahr und zu Beginn des Jahres erreichte Marta bei der Kommunalverwaltung und beim Präfekten, dass sie fünf Mitarbeiterinnen von Gente Valente mit einem Mindestlohn bezahlten. Die Mitarbeiterinnen – zehn Erzieherinnen und weitere Helfer für Küche und Hauswirtschaft – teilten das Geld solidarisch, so dass alle zumindest etwas in der Tasche hatten. Für die Ernährung war das erwähnte Förderprogramm des Staates Bahia eine große Hilfe. Die Unterhaltskosten der beiden Häuser und der Stiftung als ganzer waren dank der Unterstützung von GN und weiterer Spender gesichert, für Marta eine große Entlastung.
Um die Mitarbeiterinnen zu fördern und die Qualität der pädagogischen Arbeit in Gente Valente zu sichern, hat GN seit 2018 eine Gruppe von Erzieherinnen bei ihrer Ausbildung unterstützt. In einer Art Blockunterricht bot eine private Bildungseinrichtung – vergleichbar mit einer beruflichen Fachschule bei uns – einen vierjährigen Kurs für Pädagogik an. GN gab einen Zuschuss für die Kursgebühren. Leider konnte der Kurs seit März nicht mehr in Präsenz stattfinden, ebensowenig wie die Kurse an anderen Hochschulen. Die Möglichkeiten für einen „virtuellen“ Unterricht haben sich nach ersten Versuchen als sehr bescheiden erwiesen. Die Einrichtung bot daraufhin den Frauen an, ihren Abschluss mit einem (sehr) eingeschränkten Fernunterricht zu erhalten, wenn sie die Gebühren für 2020 und 2021 weiter bezahlten. Marta sieht das sehr kritisch, denn trotz formalem Abschluss erhalten die Frauen so keine wirkliche Qualifikation. Wie viel sie damit nachher anfangen können, ist zweifelhaft. Trotzdem haben sich drei der jungen Frauen für diesen Weg entschieden. Die Alternativen überzeugen auch nicht, denn die Fortsetzung des Kurses in einer anderen Bildungseinrichtung ist zwar theoretisch möglich, praktisch nehmen sie dort aber zur Zeit – wegen Corona – keine Quereinsteiger an. Den Frauen, die diese Option wählten, bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten oder die Ausbildung ganz von vorne zu beginnen. Marta hofft, dass sich im Januar oder Februar – mit dem Beginn des nächsten Schul- bzw. Ausbildungsjahres – noch eine Möglichkeit für sie eröffnet. Das ist aber sehr ungewiss.
Die Kommunalwahlen im November verliefen so, wie zu erwarten war. Die Kandidaten mit einflussreichen Clans im Hintergrund, genügend Geld und wenig Skrupeln bei Wahlgeschenken und Bestechung haben sich durchgesetzt. Der vorige Präfekt aus der Familie Berti konnte seinen Kandidaten, Cleivinho, erfolgreich als Nachfolger und „Marionette“ installieren. Immerhin hatte Marta mit ihm vor der Wahl schon mal ein Gespräch führen können. Dabei gewann sie den Eindruck, dass er zumindest leichter zugänglich und gesprächsbereiter ist als sein Vorgänger. Er wird nach Martas Einschätzung nicht viel selbst entscheiden, sondern vor allem den Willen der Leute im Hintergrund umsetzen. Zumindest besteht mit ihm eine Chance, die in diesem Jahr begonnene Bezahlung von fünf Erzieherinnen fortzusetzen, zumal die „Sekretärin für Bildung“ in der Kommunalverwaltung dieselbe bleibt. Damit es tatsächlich geschieht, wird Marta im Januar und Februar viel Zeit einsetzen müssen, um immer wieder bei der Verwaltung und beim Präfekten vorzusprechen und zu bohren, bis sie endlich etwas tun. Sie rechnet frühestens für März damit, dass die Bezahlung fortgesetzt wird, wenn überhaupt. Das Schul- und Kindergartenjahr beginnt in der zweiten Februarwoche. Sie müssen also für die erste Zeit mit den Reserven aus diesem Jahr arbeiten und mit der Unsicherheit, wie es weitergeht. Nach den Weihnachtstagen hat Marta noch einige Arbeit mit der Bürokratie vor sich. Sie schließt die Buchführung der Stiftung für das Jahr ab, muss Berichte verfassen und die Kinder bei der Behörde für das nächste Jahr registrieren. Bevor die Ferien zu Ende gehen, hofft sie, im Januar noch etwas Zeit bei ihren Eltern in Pernambuco verbringen zu können.